Donnerstag, 22. November 2018

Aus dem Nähkästchen


Spiegelbild


Aufmerksam betrachte ich mein Gegenüber. Hochgewachsen, hager, mit langen, lockigen Haaren und einem dichten Bart. Er trägt ein Blind Guardian Tshirt. Darüber eine kurze Jeansweste. Diese ist über und über mit Patches bestickt, alles ausnahmslos von bekannten und weniger bekannten Power und Heavy Metal Bands.Priest. Maiden. Manowar. Helloween. Stormwarrior. Und natürlich Blind Guardian. Die Kutte gleicht einer Litfaßsäule.
Seine Arme verschwinden komplett unter mit Nieten bestückten Lederbändern. Kurzum, er ist bemüht, das authentische Bild eines truen achtziger Jahre Metalers zu präsentieren. Dabei ist er vielleicht gerade mal Anfang 20. Unter dem dichten Bart versteckt sich ein leicht rundliches, rosiges Gesicht mit noch leicht kindlichen Zügen. Ihn anzuschauen ist ein bisschen wie ein Blick in einen Spiegel zu werfen. Einen Spiegel, der ungefähr 15 Jahre in die Vergangenheit reicht.
Schwungvoll setzt er seine Bierflasche ab. Es klimpert leise. Jetzt ist es an ihm, mich zu betrachten.
Sein Blick sagt eindeutig, was er von mir hält. Was will der Poser hier eigentlich?
Rein äußerlich betrachtet bin ich heute das genaue Gegenteil von ihm. Keine Lederjacke. Keine Kutte. Selbst das obligatorische Bandshirt habe ich diesmal im Schrank gelassen. Stattdessen trage ich eine einfache Jeans und ein rot weiß kariertes Hemd. Das hatte ich bei meiner letzten Wandertour an, und da ich nicht komplett frische Sachen auf dem Konzert anziehen wollte, war es meine erste Wahl. Ein ganz leichter Hauch von Schweiß und Bier hängt noch daran. Somit passe ich wenigstens vom Geruch her in sein Weltbild. Ansonsten ist mein Outfitt so Heavy Metal wie die Herrenabteilung bei H&M.

Schließlich zuckt er mit den Schultern und öffnet seine nächste Flasche. In einem Zug verschwindet Bier Nummer zwei. Ein lauter Rülpser und ein zufriedenes Grunzen folgen. Dann wendet er sich an mich. „Und, wegen welcher Band bist du hier?“ „Dark Inner Void.“ „Aha. Black Metal?“ Ich nicke. „Mh, Black Metal, damit kann ich gar nichts anfangen“ „Du magst deinen Metal wohl lieber traditionell?“ frage ich ihn.
„Ja man. 80iger Jahre halt. Fette Riffs. Starke Melodien. Metal. Punkt. Kein Schnickschnack. Und eben richtiger Gesang. Nicht dieses komische Geröchel und Gegrunze bei dem eh keiner was versteht.“ Er macht sich an Bier Nummer drei. „Aber wie kommst du darauf?“
„Deine Augenfarbe hat es mir verraten“ erwidere ich. Verständnislos starrt er mich an. Ich deute auf seine Kutte. „Außerdem kann ich lesen“. Verdutzt schaut er an sich herab. Dann bricht er in schallendes Gelächter an. „Na, sie mal einer an. Hätte nicht gedacht, dass ein Poser wie du etwas mit meiner Kutte anfangen kann. So schlimm, wie du aussiehst, scheinst du ja gar nicht zu sein.“ Ein weiterer Schluck Bier bringt eine kleine Pause. Dann setzt er seinen Monolog fort. „Metal muss einfach traditionell gespielt werden. Das ist noch ehrliche, handgemachte Musik. Direkt vom Herzen. Ehrlich. Das ist einfach das Beste. Und keine so oberflächliche Kommerz-scheiße wie sie im Radio und überall sonst läuft. Wie zum Beispiel dieser Rap Kram. Hip Hop, pah! Dämliche Texte. Dämliche Musik. Dämliche Klamotten. Die schaffen es nicht einmal, Hosen in ihrer Größe zu tragen. Und ständig immer dieses Gelaber, wer der Größte von allen ist. Wer den Größten hat. Und wie viele Mütter anderer Rapper schon bei Ihnen im Bett lagen. Völliger Schwachsinn. Das hat doch mit Kunst nichts zu tun. Das einzige Gute an der Musik sind die hübschen Mädels in den Videos.“ Er stockt kurz. Ein sehnsüchtiges Glitzern erscheint in seinen Augen. Dann schüttelt er ärgerlich den Kopf.“Pah. Sind bestimmt eh alles billige Schlampen. Metal sage ich dir. Metal ist das einzig Wahre. Gute Leute. Gute Musik. Und Texte mit Tiefgang.“ 
Er setzt zum leeren seines dritten Bieres an. Ich nicke verständnisvoll. „Ja. Ich weiß, was du meinst. Tiefgründige Texte. Lyrische Großtaten sind das. Wie zum Beispiel Fire, Higher, Desire. Oder Fire. Battle. Metal. Ich bin mir sicher, da wäre sogar ein Goethe neidisch.“ In meiner Antwort schwingt mehr als nur ein Hauch Ironie mit.
Zornig schaut er mich an. „Klar, ein Poser wie du kannst das nicht verstehen.“ Er sammelt seine leeren Flaschen ein. „Wir sehen uns“. Klimpernd verschwindet er in Richtung Bar.

Kurz darauf kommt meine Freundin an den Tisch. „Tut mir leid, hat etwas länger gedauert. Hab mich fest gequatscht.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Ich hoffe, mein kleiner Cousin war nicht allzu anstrengend. Als er gehört hat, das heute Gloryful Steel Hammer spielen, wollte er unbedingt mitkommen. Leider kann er mit seinem Geschwafel, das alles andere außer Metal nur Müll ist, echt anstrengend sein.“
„So schlimm ist er nicht.“ antworte ich.“Außerdem erinnert er mich an jemanden von früher.“
„Du etwa? Na, zum Glück habe ich dich erst jetzt kennengelernt.“ Dem kann ich nur zustimmen.

Anmerkung: Die hier genannten Bands sind reine Fantasieprojekte, willkürlich zusammengewürfelt. Ich habe nicht überprüft, ob es Bands mit solchen Namen gibt. Falls das so ist, ist das reiner Zufall und es bestehen keinerlei Zusammenhänge.

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